Abenteuer an Land und im Wasser

Kinnis Welt: Abenteuer an Land und im Wasser ist ein Kinderbuch der Bonner Kinderbuchautorin Silvia Arnold. Das Buch schrieb und illustrierte sie für ihren damals erst zwei Jahre alten Enkel. Erstmalig erschienen ist das Kinderbuch im Jahr 2011. Silvia Arnold, geboren 1960 in Bonn, ist eigentlich Übersetzerin und somit in der Textwelt zuhause. Das hier veröffentlichte Hörbuch hat Kathrin Rosi Würtz im Jahr der Erstveröffentlichung eingesprochen.
Für die jährlich stattfindende Aktion „Bundesweiter Vorlesetag“ wurden drei Kapitel aus dem Kinderbuch hier veröffentlicht. Viel Spaß beim Zuhören oder Vorlesen!
Kapitel 1: Hinter der Hecke
Im wunderschönen Siebengebirge, irgendwo an einem versteckten Ort zwischen Oellberg und Petersberg, zwischen Löwenburg und Drachenfels, zwischen Lohrberg, Nonnenstromberg und Wolkenburg trat Kinni wütend gegen einen Stein. Aber hier unter Wasser ließen sich die Dinge längst nicht so leicht durch die Gegend kicken wie oben an Land. Das machte ihn noch viel wütender. Er stampfte ein paar Mal kräftig mit dem rechten Bein auf die Erde. Das machte er immer so, wenn er sauer war. Er hatte also jetzt Ferien, na super! Eine Schar junger Seepferdchen starrte ihn verwundert an und begann zu tuscheln.
Jetzt wundert Ihr Euch vielleicht auch ganz genau wie die Seepferdchen, dass jemand sich über seine Ferien ärgert. Stimmt! Normalerweise!! Aber um Ferien zu bekommen, muss man eben erst mal zur Schule gehen. Habt Ihr darüber schon mal nachgedacht? Ja eben! Schule, phhh!
Das war einzig und allein die Schuld von Fräulein Putzig. Sie hatte den Eltern den Floh ins Ohr gesetzt, dass Kinder lernen müssten. Ganz viel Mühe hatte sie sich gegeben, jede Gelegenheit genutzt, um darauf herumzureiten, bis die Eltern ihr schließlich glaubten und der Meinung waren, es sei ihre Pflicht, die Kinder auf so gemeine Art und Weise zum Lernen zu zwingen. Lächerlich, einfach lächerlich. Und den Unterricht, den wollte sie höchstpersönlich halten, gemeinsam mit dieser elenden Nervensäge, Onkel Blumenschein. Jetzt berieten sie sich gerade mal wieder. Wahrscheinlich heckten sie Pläne aus, wie sie die Kinder am besten piesacken konnten. Hier handelte es sich doch wirklich um allergemeinste Freiheitsberaubung, und das musste unbedingt bestraft werden.
Mensch, sie hatten doch so viele wirklich wichtige Dinge zu tun. Wer sollte denn zum Beispiel dafür sorgen, dass dem Cremetörtchenbaum seine süße Last nicht zu schwer wurde? Wer sollte diesen blöden Erwin zur Vernunft bringen? Wer sollte ihn dazu zu bringen, dass er sich schmutzig machte, damit er sich zu Hause eine ordentliche Portion Ärger einhandelte? Oh ja, das könnt ihr jetzt ruhig furchtbar gemein finden, Ihr werdet schon sehen.
Lernt Erwin nur erst einmal kennen, dann kommen Euch noch ganz andere Ideen. Er kann nämlich fürchterliche Anfälle bekommen, dann tanzt er ganz wild und fuchsig, er sträubt die Federn und gibt grausliche Geräusche von sich; das geschieht jedes Mal, wenn er etwas haben will, das er nicht auf der Stelle bekommt, und das ist ziemlich oft so. Dann wirft er sich auf den Boden und verdreht die Augen und alle sind furchtbar aufgeregt und seine Mutter zitiert sofort wieder einmal Herrn von Seidenschleier, den „überaus gebildeten und vornehmen Herrn aus allerbester Familie“ (wenn sie das sagt, wird ihr Mund immer ganz klein und spitz). Der hatte nämlich gesagt, und zwar ganz ausdrücklich, ihr Sohn sei ein hochsensibles Kind mit einer ausgeprägten Persönlichkeit und starkem Durchsetzungsvermögen und müsse unbedingt, unbedingt gefördert werden. Gut, die übrigen Kinder fanden ihn eigentlich nur doof und verzogen, und sie waren sich absolut einig darüber, dass ihm ihre kleinen – ähm… Erziehungshilfen – auf keinen Fall schaden konnten.
So, und jetzt sollte man nach den sogenannten Ferien plötzlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt sein. Mit Rechnen, Lesen und Schreiben, mit Heimatkunde und Biologie, mit Hauswirtschaft und Werken. Lauter solch komische Fächer hatten die Putzig und der Blumenschein sich ausgedacht, in echt.
Kinni lehnte sich an eine Muschel und ließ seine Augen über die Algenfelder seines Vaters wandern. Er fand es wunderbar, dass es zwei so verschiedene Welten gab und dass er sich in beiden völlig gleich gut bewegen konnte. Das fand die kleine Muschel auch, denn alle Wesen hier unten hatten Kinni furchtbar gern. Kinnis Eltern, die Seesternfamilie und leider auch Erwin und seine Familie, waren mit Kiemen und Lungen ausgestattet und konnten deshalb unter und über Wasser atmen. Das war einfach herrlich.
Onkel Blumenschein und Fräulein Putzig mussten immerzu an der Oberfläche bleiben, aber das war auch ganz gut so, denn so war immer jemand in dem großen Haus, das Kinnis Vater gebaut hatte. Hier gab es immer noch Platz für Gäste, denn Ihr glaubt gar nicht, wie viele Wesen im Winter, wenn es kalt war und stürmte, dort Unterschlupf suchten.
Auch Onkel Blumenschein war auf diese Art zu ihnen gestoßen. Er behauptet, er wäre einem Großmütterchen aus der Pfanne gehüpft, bevor es ihn genüsslich verzehren konnte. Mit Honig und Zuckerstreuseln, stellt euch vor! In gewisser Hinsicht klang das auch sehr glaubwürdig, denn Onkel Blumenschein war tatsächlich ein dicker, fetter Pfannkuchen. Andererseits war er aber auch ein Geschichtenerzähler, und manchmal ging ganz offensichtlich seine Fantasie mit ihm durch.
Ihr herrliches Reich lag aber hinter einer Zauberhecke, die noch längst nicht jeder sehen konnte. Möglicherweise hatte Onkel Blumenschein also wirklich geflunkert, um sich interessant zu machen, und kam in Wirklichkeit aus irgend einem versteckten Winkel vor der Hecke. Hier gab es viele Dinge, die es eigentlich nicht gab, und weil niemand so genau wusste, ob die Geschichte mit dem Großmütterchen sich wirklich ereignet hatte, wurde darüber einfach nicht gesprochen.
Was Fräulein Putzig anging, die war eigentlich schon immer hier gewesen. Seit Kinni sich erinnern konnte, hatte sie ihnen erklärt, was sich gehörte und was nicht, was gut für kleine Jungs und Mädchen war, da machte sie immer deutliche Unterschiede. Jungs durften sich schon einmal schmutzig machen, Mädchen auf keinen Fall. Jungs durften auf Bäume klettern, Mädchen niemals. Ach, sie vertrat lauter solche sonderbaren Ansichten. Sie konnte reden und reden, die Worte sprudelten aus ihrem Mund heraus, gerade wie aus einer Quelle.
Bloß neuerdings, seit Onkel Blumenschein da war, benahm sie sich oft sehr sonderbar. Sie war so sehr bemüht ihm alles recht zu machen, dass sie sogar manchmal vergaß, sich in die Angelegenheiten der anderen einzumischen und den Kindern das Leben damit schwer zu machen. Sie klimperte dann immer ganz kokett mit den Augen und strahlte über das ganze Gesicht, genau wie ein Honigkuchenpferd.
Das Haus von Kinnis Eltern, nein, es war ein richtiger Hof, nämlich der Sonnenhof, lag am Ufer eines Sees umgeben von zahllosen Weidenbäumen. Wer hinein wollte, musste durch einen großen von Rosen ganz und gar bewachsenen Torbogen gehen und stand dann mitten in einem Innenhof, der von vier aneinandergrenzenden Gebäuden umgeben wurde. In einem wohnte Kinni mit seinen Eltern und in einem anderen die Seesternfamilie. Im dritten Haus lebten die Erwins gemeinsam mit Fräulein Putzig und Herrn Blumenschein.
Das vierte Gebäude aber war der Stall für die Honigbienen und die Milchschnecken. Hier gab es außerdem ein Quartier für hungrige, verletzte oder sonst wie in Not geratene Kreaturen, die vor allem im Winter oft dankbar für ein warmes und kuscheliges Plätzchen waren. Auf diese Art und Weise hatten die Bewohner schon viele interessante Wesen kennengelernt, die immer wieder mal vorbeischauten, wenn sie in der Nähe waren, denn die gemütlichen Winter auf dem Sonnenhof waren wirklich unvergesslich. Da waren die prasselnden Kaminfeuer und die köstlichen Speisen, die Kinnis Mutter zusammen mit Tante Seestern zubereitete, der süße Duft von Bratäpfeln, Zimt und Honig, der in der kalten Jahreszeit durch die Räume strömte, die lustigen Geschichten, die sie sich erzählten, manchmal hatten auch die Logiergäste etwas Spannendes zu berichten, und die wunderschöne Musik, der sie manchmal am Abend lauschten.
Die meiste Zeit lebte man also am Ufer, aber auch unter Wasser besaß Kinnis Vater eine wunderschöne Wohnhöhle, denn manchmal musste er mit seinen Helfern von früh bis spät auf seinen Plantagen arbeiten. Dort unten gab es fabelhafte Dinge zu sehen und wunderbare Spiele zu spielen, die an der Oberfläche unmöglich waren. Manchmal verzog Kinni sich dort herunter, wenn er sich gerade mal wieder über irgendeine Ungerechtigkeit geärgert hatte oder um vor Fräulein Putzigs Belehrungen zu flüchten.
So auch diesmal, eben aus Zorn über seine bevorstehende Schulzeit und die vermeintlich verlorene Freiheit. Als er eine Weile so vor sich hin gegrummelt hatte, bog der Schnepfenfisch um die Ecke. Das heißt, seine Nase bog um die Ecke, denn die ragte ganz erheblich aus seinem Gesicht, so dass man sie lange vor dem restlichen Körper sah. Kinni mochte den Schnepfenfisch furchtbar gern und klagte ihm auch sogleich sein Leid, das ihm durch dieses schwere Schülerfreiheitsberaubungsschicksal beschert worden war. Und um sein Unglück zu unterstreichen, schob er seine Unterlippe deutlich vor.
Aber statt ihm beizupflichten und mit ihm gemeinsam zu schimpfen, sah der Schnepfenfisch ihn nur verwundert an. Er konnte ihn gar nicht verstehen – im Gegenteil – er war ganz begeistert von der Vorstellung. Er bat sogar darum, dass Kinni ihm von dem Erlernten berichten möge und war äußerst interessiert. Ganz aufgeregt wurde er. Kinni war verblüfft. Erlerntes??? Hmmm?
Der Schnepfenfisch half Kinnis Vater beim Bestellen der Algenfelder, denn seine Schwanzspitze eignete sich hervorragend zum Pflügen und mit seiner Nase konnte er für die kleinen Setzlinge tiefe Löcher in den Seeboden bohren. Aber zum Lernen hatte er hier unten keine Gelegenheit, es gab hier weder Bücher noch Lehrer. Der Schnepfenfisch bedauerte das sehr, denn er war von jeher sehr wissbegierig gewesen. Er versprach Kinni, ihn auf seinem Rücken reiten zu lassen, wenn dieser ihm dafür von den Unterrichtsstunden berichten würde.
„Weißt du, Kinni“, sagte er, „wenn du etwas gelernt hast, dann kann dir so leicht niemand etwas vormachen, und wenn du dazu noch einen klaren Verstand besitzt, dann hast du einen wertvollen Schatz, den dir niemand mehr nehmen kann“. Oho, von dieser Seite hatte Kinni die Sache noch nie betrachtet. Er überlegte noch eine Zeit lang, wobei seine vorgeschobene Unterlippe sich Stück für Stück zurückzog. Er selbst hatte auch schon immer gestaunt, was sein Vater so alles wusste und war immer sehr stolz gewesen, dass gerade sein Papa der Klügste von allen war, bei dem sich jeder Rat holte. Da merkte er, dass er plötzlich sehr glücklich wurde.
Der fabelhafte Schnepfenfisch, den er so gern hatte, beneidete ihn also um seine Zukunft als Schüler und würde ihn dann vielleicht sogar ein wenig bewundern. Er nahm sich ganz schnell vor, besser zu lernen als alle anderen, um dann später der Alleroberklügste zu sein, wie Papa. So kam es also, dass Kinni seine Meinung über den Unterricht erheblich änderte. Seine Unterlippe ging endgültig in ihre normale Position zurück, seine Mundwinkel wurden wieder gerade.
Als wenig später die Seesternkinder ankamen, waren sie sehr erstaunt, dass Kinni sich mit dem „schweren Schlag“, wie er die Angelegenheit noch vor kurzer Zeit genannt hatte, so schnell abgefunden hatte, aber er erklärte ihnen natürlich sofort die neue Situation. Ab jetzt kamen sie sich alle sehr, sehr wichtig vor und genossen „ihre Ferien“, ihre wohlverdienten, in vollen Zügen, indem sie sich vor jeder Arbeit zu drücken versuchten, denn schließlich mussten sie ihre Kräfte für etwas sehr Wichtiges schonen. Obwohl – der Erwin konnte ihrer Meinung nach ruhig arbeiten, der war sowieso zu doof zum Lernen.
Da mochte Kinni die Seesternkinder doch erheblich lieber. Es waren drei Geschwister, nämlich zwei Mädchen und ein Junge. Man konnte wunderbare Sachen mit ihnen anstellen, fand Kinni, denn sie waren niemals zimperlich. Das war herrlich. Sie hatten auch ein Haustier, eine Maus, und wenn man einmal bedenkt, dass sie selbst kaum zwanzig Zentimeter groß waren, kann man sich ja vorstellen, wie schwer es war, diese Maus unter Kontrolle zu halten.
Nun verhielt es sich mit dieser Maus, die sinnigerweise den Namen Mausi trug, ausgerechnet so, dass sie sehr, sehr oft Dinge tun wollte, die sie eigentlich nicht tun sollte. Man hatte sie bereits mehrfach aus der Speisekammer entfernen oder aus Fräulein Putzigs Wohnung jagen müssen, die immer einen furchtbaren Schock erlitt, wenn Mausi ihr über den Weg lief, denn sie fühlte sich an Leib und Leben bedroht. Mausi konnte nämlich so tun, als ob sie sehr bissig wäre, und zwar, zumindest fand Kinni das, in äußerst günstigen Momenten.
Neulich erst, als sie eine Burg aus Sand und Schlamm gebaut hatten und ziemlich schmutzig und hungrig wie eine Kompanie Soldaten auf dem Hof erschienen waren, trafen sie auf Fräulein Putzig, die auch sogleich einen ihrer spitzen Schreie ausstieß und mit gestülpten Lippen sagte: „Nein, so etwas Unglaubliches! Wie könnt Ihr es wagen? Soll ich Euch einmal erzählen, wie es einem schmutzigen Kind ergangen ist, das ich kenne. Also …“ Da kam Mausi plötzlich aus irgendeiner Ecke angeschossen und fletschte die Zähne. Hui, da sah man von der ollen Putzig nur noch die Kehrseite. Die Kinder gingen schnell mit Mausi in ihr geheimes Lager und belohnten sie mit Zuckerplätzchen und frischer Milch von den Milchschnecken, die dort auf einer saftigen Wiese weideten und zum Hof von Kinnis Vater gehörten.
Diese Schnecken hatten einen dritten Fühler, und aus diesem Fühler floss die hellblauste und köstlichste Milch, die Ihr Euch vorstellen könnt. Nachdem die Kinder Mausi bereits einige Male auf diese Art belohnt hatten, begann sie auch ohne besonderen Grund häufiger einmal zu knurren und furchtbar wild und gefährlich auszusehen. Dabei sah sie die Kinder dann so seltsam erwartungsvoll an, dass sich die Erwachsenen langsam aber sicher ein wenig zu wundern begannen. Aber bis auf Fräulein Putzig waren ja alle davon überzeugt, dass Mausi im Grunde eine sehr liebe und verschmuste Maus war.
So, nun habt Ihr ja schon die wichtigsten Beteiligten kennengelernt. Dann kann die Geschichte wohl losgehen.